
Sonnenhang von Kathrin Weßling: Die unendliche Gnadenlosigkeit des Seins
Verloren. Im eigenen Leben. Was tun, wenn einem die einzig verbliebene Perspektive genommen wird? Wo anfangen, wenn Flucht oder Sterben keine Option sind? Wie zu sich selbst finden, zumindest einen Weg einschlagen, im Jetzt zu sein? In Katrin Weßlings Roman »Sonnenhang« gibt es kein Patentrezept oder gar Happy End – und genau deshalb lohnt das Lesen.
Katharina ist 38 und lebt in Berlin, der Metropole aller Suchenden. Beraterin um des Geldes willen (und weil sie gut darin) ist, ein nicht mehr ganz junger Single ohne Gebärmutter. Verzweifelt über das Loch im Bauch, das schwarze Universum der eigenen Hilflosigkeit, mit Alkohol und Zigaretten immer hart am Rande des Dramas der eigenen, unspektakulär gescheiterten Existenz.
Perspektive: Überleben, am besten ohne Leberzirrhose oder Übergewicht. Alkohol und zu viel an Essen machen es nur schlimmer.
»Aber Katharina ist so müde, das kann sich keiner vorstellen, wie müde sie die ganze Zeit ist.«
Es tut teilweise sehr weh, die sich so gar nicht selbst spürende Protagonistin in Kathrin Weßlings Gesellschaftsroman beim Leben, oder eher Vegetieren, zu betrachten.
Aus der Vogelperspektive zu beobachten, wie sie dann doch wieder einen Shot bestellt und auf das nächste Tinderdate wartet, statt irgendetwas sinnvolles oder etwas zumindest »für sich« zu tun. Und doch, die Hilflosigkeit ist so normal, die Leere so bekannt, die Hürden so unendlich hoch – die eigene Erfahrung macht das Lesen so schmerzhaft. Der eigene Kampf ums Erwachsenwerden mit über 30.
Die eigene Trauer um die nicht-existente Familie. Katharina hat ihre Gebärmutter an den Krebs verloren, ich zwei Schwangerschaften, zwei Kinder an den Himmel. In beiden Fällen: so unsichtbar wie unfassbar.
Also funktionieren; von Außen ist das innere Verlorensein nur eine Fiktion, eine traurige Geschichte. Doch die Seele ist tot, gestorben mit den zerplatzen Visionen von Familie und dem Plan zum vermeintlichem Lebensglück.
Wie also soll so etwas wie Freude, Sinn oder zumindest ein Hauch von Zugehörigkeit entstehen?
Katharina beginnt in einem Altenheim mit den Senioren zu spielen. Kniffel, Halma und Uno.
Kaputt, kaputt sind sie dort alle; der Manni, die Schnapsdrossel von Heimleiterin und auch die olle Margot mit ihren stummen Freundin Christine. Aus Gründen, so komplex und trivial wie das Leben jenseits der Instagram-Bubbles, des Vorzeige-Glücks im Reihenhaus oder der inszenierten Neureichen-Fake-Shows. Und wenn sie beim Pfeffi-Trinken in Mannis Werkstatt erzählen, zwei Fläschchen Picolo in Reserve, dann gibt der Blick hinter die Kulissen genau dieses verdammte Leben jenseits der Werbeprospekte preis. Dort, wo alles ungerecht ist, das Unglück in der Familie wohnt und jeder, mindestens jeder drei Päckchen Schicksal, Krankheit oder einfach nur Pech zu tragen hat.
Und dann stirbt auch noch Manni, der mit der Werkstatt. Ein bißchen Vaterersatz, ein alter weißer Freund, auf jeden Fall ein Kamerad in schweren Stunden. Die Trauer ist wieder da, die Ungerechtigkeit des Seins liegt wie Blei auf der eigenen Existenz. Und doch geht es weiter: Manchmal stehen sogar Lamas im Garten, nein im Zimmer und Spucken der Schnapsdrossel mitten ins Gesicht.
Mehr Tragikkomik geht nicht, auch wenn in diesem Moment das wahre Unglück erst so richtig zu Tage tritt.
Einzig Umut, der türkische Pfleger, kommt mit Katharina und ihrer Art klar – und sie mit ihm. Der zarte Keimling der Hoffnung wird von der Tatsache zertrampelt, dass er verheiratet ist. Am Ende läßt er sich sogar scheiden, aber … es sei nur soviel verraten: Katrin Weßlings Sonnenhang ist keine Liebesschnulze, es gibt – wie meist im wahren Leben – kein Happy End.
Aber wenn die Seniorenfamilie Katharina an Weihnachten zu sich holt, zumindest eines: Das Gefühl, zumindest irgendwo dazuzugehören.
»Aufrichtig und kompromisslos schreibt Kathrin Weßling über das Nicht-mehr-Jung-sein, zerbrochene Lebensträume und darüber, dass man manchmal an den ungewöhnlichsten Orten Freundschaft findet,«
steht auf der Rückseite des im Rowohlt-Verlag erschienenen Buches. Und selten hat eine unter Marketing-Aspekten ausgesuchte Klappenbeschreibung den Charakter eines Romans so treffend eingefangen.
Katrin Weßlings Sprache ist klar, modern und schnell wie der Lifestyle zwischen Social Media, schlechten Entscheidungen, Konsum und der eigenen Bedeutungslosigkeit. Teilweise treffen die fast dahin-gerappten Wortphrasen, die einen im Lesen ihren schnellen, kalten Rhythmus aufdrängen, die offene Sprachlosigkeit der Protagonistin wie Pfeile ins dunkelgefärbte Herz. Mitten im Leben, aber keinen Schimmer davon. Das Stakkato geht in Resonanz mit dem Verlust des eigenen Takts.
Die Schriftstellerin dagegen, die selbst Expertin für Soziale Medien ist, hat einen tiefen Blick. Sie fängt die Feinheiten des selbstkreierten und doch unverschuldeten Unglücks in Schattierungen ein, die weit über die Perspektive einer Social Media-Blase hinausgehen, die den Blick hinter die Fassade geradezu pathologisch filettieren und ein gnadenlos ehrliches, schonungsloses und dennoch zartes Bild der Verzweiflung einer modernen Frau und ihrer diversen Dilemma zeichnet. Ja, einer ganzen Generation an weiblicher Orientierungslosigkeit im Zweispalt zwischen Patriarchat und Karriere, einer sich in Selbstfindung verhaspelten Gesellschaft im Hamsterrad dieser globalisierten Welt. Trilliarden an Möglichkeiten, aber kein Halt.
Es grenzt an ein kleines Wunder, dass dieses Buch ohne Happy-End, mit seiner nichts beschönigenden »der Boden der Tatsachen ist ein hartes Pflaster«-Mentalität ganz zum Schluss dennoch wahre Hoffnung spendet. Lesenswert, zum Nachdenken und Nachspüren.
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