Tödliche Intelligenz: Der 1. Patient – ein Krimi über KI in der Medizin
»Der 1. Patient« entführt als packender Thriller in die Welt der modernen Medizin und Künstlichen Intelligenz. Das Buch vereint die Expertise eines Ex-Strafverteidigers und KI-Kenners mit der eines renommierten Rechtsmediziners und beleuchtet fesselnd aktuelle Fragen zur Rolle von KI in der Medizin.
Im Mittelpunkt der Handlung steht Sasha Müller, Chefärztin der Chirurgie in einer Berliner Klinik. Die technikaffine Ärztin setzt sich öffentlich für den Einsatz von KI in der Medizin ein. So beginnt das Taschenbuch des Autorenduos Florian Schwiecker und Prof. Dr. Michael Tsokos mit einem hitzigen Talkshow-Schlagabtausch über die Vor- und Nachteile von KI in der Medizin.
Sasha Müller als Befürworterin argumentiert, dass in Zeiten einer alternden Bevölkerung, in denen weniger Ärzte mehr Patienten und Fälle stemmen müssen, KI den Fachkräftemangel lindern und die Effizienz in Krankenhäusern steigern kann. Die Kritiker weisen dagegen auf die Unberechenbarkeit und potenziellen Gefahren hin, die von einer »Blackbox« KI ausgehen – bis hin zum Tod von Patienten.
Und so kommt es denn auch prompt: Ein Patient stirbt während einer einfachen Bypass-Operation an einem anaphylaktischen Schock, als verantwortliche Ärztin wird Sasha Müller wegen fahrlässiger Tötung unter Anklage gestellt. Doch ist sie wirklich die Schuldige? Der Behandlungsplan, erstellt von einer KI des Start-ups Augmentum, hatte eine – in dem Falle tödliche – Kontrastmittel-Allergie nicht berücksichtigt. Die Verteidigung von Sasha Müller übernimmt der erfahrene Strafverteidiger Rocco Eberhardt, der somit die Frage aufwirft, ob nicht die KI selbst auf die Anklagebank gehöre.
KI im Fokus der Ermittlungen
Hat die KI bei der Erstellung des OP-Plans einen schwerwiegenden Fehler gemacht? Allerdings hätte auch Müller als zuständige Ärztin die Unstimmigkeit bemerken müssen, die Situation scheint, als »wäre einer erfahrenen Chirurgin ein Anfängerfehler unterlaufen«. Das betroffene KI-Start-Up befindet sich derweil in Alarmbereitschaft: In einem Kampf ums pure Überleben versucht das junge Unternehmen, Börse und Investoren zu beschwichtigen. Denn auch auf Seiten der Medizin-KI wird schnell deutlich: »Die Technologie hat in diesem Fall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Fehler gemacht.«
Erschwert wird eine objektive Ermittlung durch die Boulevard-Presse. Eine junge Redakteurin hat sich sofort auf den Fall gestürzt, sie will sich profilieren. Im Hamsterrad des Sensationsjournalismus werden mit fragwürdigen Methoden reißerische, emotionale Artikel produziert, die vor allem auf Klicks abzielen. Der Anwalt bringt die Situation prägnant auf den Punkt: »Ein banaler Haftungsfall verwandelt sich durch irgendwelchen Zukunftskram in ein mediales Monster.«
Abseits der losgetretenen Klinik-Polizei-Medien-Startup-Maschine wird dem aufmerksamen Leser recht schnell klar, dass weder Arzt noch KI allein für den Tod des Patienten verantwortlich sein dürften. Für den potenziell tödlichen Behandlungsplan muss einen anderen Grund geben.
KI-Krimi mit überraschender Wendung
Der Krimi-Aufbau und die Zeichnung der Figuren sind gelegentlich schablonenartig angelegt; der Anwalt hat (wie so oft) einen befreundeten Privatdetektiv, der wiederrum einen Hacker kennt usw. Die teils klischeehaften Details des Buches tun manchmal weh; so heißt z.B. die Boulevard-Gazette »Das Blatt« und erscheint im »Axel Läufer Verlag« – aua. Zur gelernten Thriller-Struktur kommen viele Protagonisten und (Neben-) Schauplätze, selbst der geübte Krimi-Leser könnte zunächst etwas überfrachtet sein – doch das Dranbleiben lohnt sich, nach dem erklärenden ersten Teil nimmt das Buch deutlich an Fahrt auf.
Denn: Wenn weder KI noch Ärztin einen Fehler gemacht haben – warum musste ein Mensch sterben? Die Aufdeckung der wahren Schuldigen treibt den Prozess gegen die Ärztin und deren Verteidigung – und damit auch das Buch. Der Anwalt übernimmt in mehreren guten Spannungsbögen die Arbeit der Polizei. Während er die Zweifel gegenüber der Technik und seiner Mandantin über IT-Systeme und schließlich im Duell Hacker gegen Hacker löst, wirft das Buch einen schonungslosen Blick hinter die Kulissen des Klinikalltags, die ärztlichen Hackordnung und die wirtschaftlichen Interessen der Krankenhäuser.
Toxische Start-Up-Kultur und Boulevard-Presse
Neben dem Einblick in Medizin-KI und Klinikalltag zeigt das Autoren-Duo Schwiecker-Tsokos zudem eine toxische Start-Up-Kultur profitgieriger Investoren und Gründer, die ihre Vision unter der Devise »Geld statt Exzellenz« gegen Skalierung eingetauscht haben. Und: der Roman hinterleuchtet die eklige Arbeitsweise von Boulevard-Blättern mit klickgetriebenen Online-Journalismus sowie die Überlastung der Polizei und Justiz.
Am Ende des Thrillers gibt es – nach einer cleveren und überraschenden Wendung – einen Täter. Und es ist nicht zu viel verraten: der heißt weder Arzt noch Technologie. Die tödliche Intelligenz ist – wie meist im Leben – rein menschlicher Natur.
Können Patienten einer KI vertrauen?
»Der 1. Patient« ist keine diskursorientierte Hochliteratur, sondern solide Unterhaltung zu einem brandaktuellen Thema. Ein großes Plus: Das Buch stellt spannende Fragen. Wer trägt Verantwortung, Arzt oder KI? Kennt der Arzt alle Daten für seine Entscheidung? Denn KI ist nur so gut wie ihre Daten – ist deren Nachvollziehbarkeit gegeben?
Der Roman zeigt auch, mit welchen neuen Mordmethoden sich die Polizei zukünftig auseinandersetzen muss. Das fix gelesene Taschenbuch in typischer Thriller-Aufmachung regt zur Auseinandersetzung mit dem Thema an, auch wenn es sich mit der korrekt arbeitenden KI und den korrekt arbeitenden Ärzten ein wenig zu einfach aus der Affaire zieht. Aber es ist eben eher eine gute Sommerlektüre, denn ein Werk von Ferdinand von Schirach.
Der 1. Patient von Florian Schwiecker und Prof. Dr. Michael Tsokos
Verlag Droemer Knauer 2024, 12,99 Euro
