
Philippe Parreno’s »Voices« im Haus der Kunst: Durch Technik die Natur erleben
Eine Ausstellung als lebender Organismus: Ein Live-Video aus einem spanischen Mandelhain wird im Münchner Haus der Kunst zum allumfassenden Naturerlebnis. Der französische Künstler Philippe Parreno verknüpft über Sonnenkollektoren, Sensoren und Windräder die Kraft der Elemente mit seinen Kunstwerken in München – in Echtzeit. Das immersive Erlebnis umhüllt den Besucher wir ein Urlaubstag und lässt eine neue Realität entstehen – mit einer vertrauten Stimme aus dem Off.
Der französische Künstler Philippe Parreno hat das Haus der Kunst in einen pulsierenden Organismus verwandelt, der die Grenzen zwischen Mensch, Maschine und Raum verschwimmen lässt. Seine noch bis zum 25. Mai 2025 laufende Ausstellung »Voices« ist mehr als eine bloße Präsentation von Kunstwerken – sie ist ein choreografiertes Gesamterlebnis, das sich wie ein Drehbuch entfaltet und die Besucher in eine Welt paralleler Realitäten entführt.
Ein technologisches Ökosystem
Was »Voices« so revolutionär macht, ist die vollständige KI-Steuerung der Ausstellung. Im Mittelpunkt steht ein kontinuierlicher Datenaustausch in Echtzeit zwischen dem Haus der Kunst und einem wüstenartigen Mandelhain in Almeria, Spanien – karges Gestein, robuste Gewächse, Erde und ein paar Sprenkel Grün dazwischen. Sonnenkollektoren, Windhosen, Kameras und Sensoren sammeln Bilder, Töne und Daten wie Temperatur, Windstärke oder Luftfeuchte. Die Parameter werden über eine Antenne gesammelt und kontinuierlich in die Ausstellung gestreamt, wodurch die sich mit den Jahreszeiten verändernde Essenz dieses entfernten Ortes eingefangen wird.
Diese Daten werden dem sogenannten »Brain« – einem maßgeschneiderten Supercomputer – verarbeitet und auf das Verhalten der Objekte in München übertragen. Eine Wand bewegt sich langsam, Lampen strahlen Wärme ab, ein Ventilator bläst, Filme schalten sich an und aus, mechanische Elemente heben und senken sich, und Vitrinen geben ihren Inhalt als Reaktion auf elektrische Ströme preis. Die besondere Ausrichtung des Klangs – dreieckig bis spiralförmig – setzt die starre Architektur des Gebäudes außer Kraft und schafft einen Raum, der atmet und lebt.
Die Sprache als transformative Kraft
Über allem, in allem schwebt ∂A, eine von Parreno entwickelte Kunstsprache, die sich während der gesamten Laufzeit der Ausstellung in Echtzeit weiterentwickelt. Die durch maschinelles Lernen entwickelte Sprache wird von der bekannten Tagesschau-Sprecherin Susanne Daubner gesprochen, deren vertraute Stimme der Ausstellung einen unheimlichen Anstrich von Authentizität verleiht. Lautsprecher heben und senken sich, ihre körperlose Stimme scheint aus dem Nichts zu kommen und verschmilzt mit der Architektur des Raumes, wodurch eine neue Resonanz entsteht.
Inmitten dieser Bild- und Tongewalt, die einen wahlweise an das umfassende Naturerlebnis einer weiten, flirrenden Landschaftsebene oder die Mark und Bein durchdringende Freiheit eines düsteren Techno-Clubs erinnert, treten Tänzerinnen und Tänzer in Dialog mit den Besuchern. Minimalistische Bewegungen sprechen unter der Leitung des Künstlers Tino Sehgal mit den Anwesenden und zur Ausstellung. Ihre vokalen Äußerungen – von gutturalen Lauten bis zu melodischen Phrasen – lösen wie die spanische Landschaft Reaktionen im Haus der Kunst aus: Lichter flackern, Objekte beginnen zu surren, Oberflächen kräuseln sich. Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine, zwischen Raum und Zeit und zwischen hier und dort verschwimmen zusehends.
Nachhaltige transnationale Zusammenarbeit
Interessanterweise wurden Museumseinrichtungen aus verschiedenen lokalen Institutionen entliehen, im Rahmen einer Einladung zu mehr Nachhaltigkeit und Zusammenarbeit. Die Stücke wie Lampen, Stühle, und fliegende Glaselemente werden zu Parrenos Leitwerkzeugen verwandelt, die blinken und weitere Elemente seiner Umgebung enthüllen, während sie die Besucher dazu einladen, über traditionelle Formen der Ausstellungspräsentation nachzudenken. »Voices« ist im besten Sinne immersiv zu erleben.
Abseits jeglicher konsum- und event-orientierter Unterhaltungsformate definiert Parreno das Konstrukt Ausstellung im besten Sinne von Kunst neu. Das wegweisende Konzept entstand in Zusammenarbeit mit dem Leeum Museum of Art in Seoul, wo die Ausstellung bereits von Februar bis Juli 2024 zu sehen war. Die beiden aufeinander abgestimmten, jedoch unterschiedlichen Ausstellungen teilen sich ein Gesamtkonzept, gemeinsame Auftragswerke, ein Buch mit allen vor Ort gesprochenen Texten und machen eine Zusammenarbeit über Kontinente, Kulturen und Sprachen hinweg lebendig.
Ein lebendiger Organismus
Parreno versteht sein Werk als lebendigen Organismus, der durch Temperaturschwankungen, Licht, bewegte Bilder und die Sprache ∂A Gestalt annimmt. Die Ausstellung entfaltet vielfältige Dialoge: zwischen den Besuchern, den Tänzern und den Räumen, zwischen München und dem weit entfernten spanischen Mandelhain. Was dort geschieht, geschieht auch hier und läßt in Echzeit ein hybrides Ökosystem aus Kunst, Natur und Technologie entstehen.
Die Ausstellung »Voices« ist letztlich eine Landschaft, in der Ereignisse gemeinsam erzeugt werden, Schnittstellen verschwinden, Menschen und Nicht-Menschliches sich durch eine neue Sprache verbinden und sich das Ganze im Laufe der Zeit unerbittlich weiterentwickelt und transformiert. Sie verwandelt das Haus der Kunst in eine sich ständig verändernde Science-Fiction-Welt, in der die Besucher die bevorstehende Ankunft von etwas spüren, das noch nicht präsent ist. »Voices« ist ein Naturerlebnis, in dem Besucher die Urkraft, den Antrieb und den Fluss des irdischen Lebens mit allen Sinnen erfahren dürfen. Wer sich auf dieses außergewöhnliche Erlebnis einlässt, wird mit einer völlig neuen Perspektive auf die Möglichkeiten zeitgenössischer Kunst belohnt – einer Kunst, die atmet, kommuniziert und sich ständig neu erfindet.
Kuratiert wurde die Ausstellung von Andrea Lissoni mit Hanns Lennart Wiesner und Lydia Antoniou und wird von der Ulli und Uwe Kai-Stiftung gefördert.

